Moderne Justizakten als zukünftige Quellen historischer Forschung - Workshop zur Archivierung von Unterlagen der Justiz

Moderne Justizakten als zukünftige Quellen historischer Forschung - Workshop zur Archivierung von Unterlagen der Justiz

Organisatoren
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen; Dokumentations- und Forschungsstelle "Justiz und Nationalsozialismus" an der Justizakademie Recklinghausen
Ort
Recklinghausen
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.06.2005 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Martina Wiech, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen

Justizakten spielen in der historischen Forschung eine besondere Rolle. Vom Weistum eines mittelalterlichen Schöffengerichts bis hin zur modernen Straf- oder Zivilprozessakte - gemeinsames Merkmal aller Unterlagen aus dem Bereich der Justiz ist ihre inhaltliche Vielgestaltigkeit. Sie spiegeln alle Facetten der Lebenswirklichkeit, sowohl die Norm als auch die Normabweichung. Sie dokumentieren nicht nur spektakuläre Prozesse, sondern geben tiefe Einblicke in das alltägliche Leben der "kleinen Leute". Aus diesem Grund werden sie von der Geschichtswissenschaft vielfach als Quellen ersten Ranges herangezogen: Sie geben z.B. Antworten auf sozial-, wirtschafts-, regional-, kultur- und alltagshistorische Fragestellungen und können als Quellen für behördengeschichtliche und rechtshistorische Untersuchungen dienen.

Justizakten zählen zu den am häufigsten benutzten Beständen staatlicher Archive. Sie bilden auch im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen die größte Bestandsgruppe. Voraussetzung dafür, dass aus modernen Justizakten überhaupt potentielle zukünftige Quellen der historischen Forschung werden können, ist die archivische Bewertung. Archivarinnen und Archivare entscheiden unter fachlichen Gesichtspunkten, ob Unterlagen archivwürdig, d.h. für rechtliche und wissenschaftliche Zwecke von bleibendem Wert sind.

Die großen Mengen an Schriftgut, die in der Justiz entstehen, stellen für alle Archive eine Herausforderung dar. Das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen hat im September 2004 eine Projektgruppe zur Erarbeitung eines Archivierungsmodells für Unterlagen der Justiz eingerichtet. Aufgabe dieser Projektgruppe ist es, verbindliche Bewertungsentscheidungen für das Landesarchiv zu formulieren sowie Prognosen und Quoten für zukünftige Übernahmen zu definieren. Gleichzeitig möchte das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen mit anderen Archiven und mit der historischen Forschung in einen Dialog darüber eintreten, was zukünftig aus Gerichten und Justizbehörden in Nordrhein-Westfalen archiviert werden soll. Der Workshop in Recklinghausen, zu dem das Landesarchiv und die Dokumentations- und Forschungsstelle "Justiz und Nationalsozialismus" an der Justizakademie des Landes Nordrhein-Westfalen gemeinsam eingeladen hatten, sollte diesen Dialog eröffnen.

Stefan Rubel, zuständiger Referent im Justizministerium Nordrhein-Westfalen, und Prof. Dr. Wilfried Reininghaus, Präsident des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, konnten in Recklinghausen 40 Teilnehmer(innen) begrüßen, darunter Archivarinnen und Archivare aus staatlichen und kommunalen Archiven mehrerer Bundesländer sowie Jurist(inn)en und Historiker(innen) aus verschiedenen Universitäten.

Im Anschluss an die Grußworte gab Dr. Martina Wiech in einem einleitenden Beitrag einen Einblick in die rechtlichen Grundlagen der Archivierung von Unterlagen der Justiz. Sie stellte die Organisation der Justiz in Nordrhein-Westfalen dar und erläuterte Aufgaben und Arbeitsprogramm der im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen eingerichteten Projektgruppe.

Oberste Landesbehörde für alle Gerichte und Justizbehörden in Nordrhein-Westfalen mit Ausnahme des Verfassungsgerichtshofs ist das Justizministerium des Landes. Dr. Matthias Meusch, zuständiger Dezernent für dessen Überlieferung im Landesarchiv, stellte Struktur, Aufgaben und Schriftgutverwaltung der Behörde vor. Anhand ausgewählter Beispiele - v. a. aus dem Bereich der Strafrechtspflege - berichtete er aus der laufenden archivischen Bewertung der Aufgaben und Akten. In einem vorläufigen Befund fasste Dr. Meusch potentiell Archivwürdiges aus dem Justizministerium zusammen: Dazu gehören insbesondere der Bereich der Justizpolitik, sofern eine Steuerungsfunktion für den nachgeordneten Bereich erkennbar ist, Sonderzuständigkeiten der Abteilungen des Justizministeriums und des Landes Nordrhein-Westfalen sowie ausgewählte Unterlagen aus dem Gesetzgebungsverfahren.

An die beiden einleitenden Vorträge schloss sich eine erste Diskussion im Plenum an, in der es unter anderem um methodische Fragen ging: In welchem Umfang benötigen die bewertenden Archivarinnen und Archivare juristische Kenntnisse? Wie werden Aufgaben und Akten analysiert? Weitere Fragen zielten auf die Bewertung von Schriftgut aus der NS-Zeit oder der frühen Nachkriegszeit. Prof. Reininghaus erläuterte, dass diese Unterlagen in den grundsätzlich prospektiv angelegten Archivierungsmodellen des Landesarchivs als Ausnahmetatbestände klassifiziert werden. Sie fallen damit nicht unter die für das Landesarchiv geltende Begrenzung der Übernahmemenge auf 1% des gesamten Schriftguts bzw. maximal 2,2 Regalkilometer pro Jahr. Schließlich waren auch Fragen der elektronischen Aktenführung und Schriftgutverwaltung Gegenstand der Diskussion.

Die einleitenden Vorträge bildeten die gemeinsame Informationsbasis der Teilnehmer(innen) für die vertiefte inhaltliche Diskussion. Hierzu teilte sich das Plenum in vier Arbeitsgruppen auf, die sich mit den Themen Zivilprozess- und Konkursakten, Strafverfahrensakten und Justizvollzug, freiwillige Gerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit befassten. Mitglieder der Projektgruppe des Landesarchivs (Dr. Rainer Stahlschmidt, Dr. Ralf-Maria Guntermann, Beate Dördelmann, Dr. Johannes Kistenich) führten in die Themen ein und moderierten die ebenso engagiert wie sachlich geführte Diskussion.

Die Ergebnisse der Gruppenarbeit wurden schließlich im Plenum vorgestellt und diskutiert. Auch wenn in jeder Arbeitsgruppe andere Nuancen gesetzt wurden, gab es doch eine Reihe von gemeinsamen Berührungspunkten. Die Bandbreite der Themen reichte dabei von der grundsätzlichen Frage nach dem Ziel und Zweck der Archivierung von Justizakten bis hin zu konkreten Vorschlägen für Auswahlverfahren. Die Teilnehmer(innen) betonten den Wert der Justizüberlieferung für die historische Forschung. Archivierte Justizakten böten aber auch für andere Fragestellungen, z.B. aus der Soziologie oder aus der Psychologie, eine exzellente Materialgrundlage. Gleichzeitig gingen die Arbeitsgruppen der Frage nach, in welchem Umfang Überlieferung aus anderen Bereichen einen Ersatz für Justizakten bilden könnte. In allen Arbeitsgruppen fielen konkrete Hinweise auf vorhandene Parallelüberlieferungen. Genannt wurden z.B. die Überlieferung in den Justiziariaten als Ersatz für Prozessakten aus Verfahren mit öffentlich-rechtlichen Prozessbeteiligten oder die Unterlagen des kommunalen Jugendamts als Parallelüberlieferung zu den Adoptionsakten der freiwilligen Gerichtsbarkeit.

Einen weiteren Schwerpunkt der Diskussion bildeten die Verfahren zur Auswahl besonderer Einzelfälle aus der großen Menge der Justizakten. Dabei wurden sowohl das klassische Verfahren der Kennzeichnung von Einzelfallakten durch Bedienstete der Gerichte und Justizbehörden als auch die Auswertung von Presseberichterstattungen behandelt. Besonderen Wert legte die Mehrzahl der Teilnehmer(innen) in diesem Zusammenhang auf Bewertungshinweise, die von außen (z.B. aus Kommunalarchiven) an das Landesarchiv herangetragen werden.

Breiten Raum nahm in der Diskussion die Frage ein, wie das Landesarchiv neben einer Auswahl des Besonderen auch das "Alltägliche" dokumentieren könnte. Die Teilnehmer(innen) gingen in mehreren Arbeitsgruppen der Frage nach, ob und wie Orts-, Regional- und Zeittypisches definiert werden könnte. In diesem Zusammenhang ging es um die Möglichkeit von Samplebildungen im Bereich der Justizakten, um die Archivierung von Musterprozessen, um den Quellenwert von Urteilssammlungen und um Ansprüche an eine möglichst flächendeckende Überlieferungsbildung.

Einigkeit herrschte in der Abschlussdiskussion darüber, dass die Kommunikation zwischen Archiven unterschiedlicher Träger und der Wissenschaft zur Qualitätsverbesserung der Überlieferungsbildung beitragen kann. Der Workshop "Moderne Justizakten als zukünftige Quellen historischer Forschung" wurde als wichtiger Impuls für diesen Kommunikationsprozess gewertet. Darüber hinaus äußerten die Teilnehmer(innen) den Wunsch nach einer Institutionalisierung des Austauschs: Wie kann eine kontinuierliche Kommunikation über die Archivierung von Justizakten zwischen dem Landesarchiv, anderen Archiven und der Wissenschaft organisiert werden? Möglichkeiten zur Einbindung in die Bewertungsentscheidungen des Landesarchivs (z.B. durch die zeitnahe Benennung archivwürdiger Einzelfälle), die Bereitstellung von Informationen über Struktur und Inhalt von Akten seitens des Landesarchivs sowie die Funktion der nordrhein-westfälischen Archivämter als Vermittler zwischen Landesarchiv und Kommunalarchiven wurden als Antworten auf diese Frage genannt.

Mit dem Workshop wollte die Projektgruppe des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen sowohl die gegenseitige Information vertiefen, als auch zur Formulierung von gemeinsamen Anforderungen an ein Archivierungsmodell für die Unterlagen der Justiz einladen. Für diese Aufgabe bildete der Workshop "Moderne Justizakten als zukünftige Quellen historischer Forschung" den idealen Rahmen, und die überwiegende Zahl der Teilnehmer(innen) dürfte daraus wichtige Anregungen für die eigene Arbeit gezogen haben.

Kontakt

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen
Grundsatzfragen und Öffentlichkeitsarbeit
Dr. Martina Wiech
Graf-Adolf-Str. 67
40210 Düsseldorf
Tel. 0211 - 159 238 202
Fax 0211 - 159 238 222
E-Mail: martina.wiech@lav.nrw.de


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